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Schweiz: Massiv verschärfte Kartellrechtspraxis – über die Grenzen hinaus

Bild von Niklaus Stoecklin, 1927

Aufgrund eines (einzigen) Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts („BG“) hat sich seit 2017 die Kartellrechtspraxis in der Schweiz massiv verschärft. Und: Die schweizerischen Wettbewerbshüter sollen sogar über die Grenzen hinaus aktiv werden können, wenn die „Möglichkeit“ besteht, dass durch eine bestimmte Vertragsklausel oder Geschäftspraxis der Wettbewerb in der Schweiz beeinträchtigt wird.

Das „Gaba-Urteil“

Die Schweizerische Wettbewerbskommission („WEKO“) hatte im Jahr 2009 gegen die im Kanton Basel-Landschaft ansässige Gaba International AG (heute: Colgate Palmolive Europa Sàrl; „Gaba“) eine Busse in Höhe von 4,8 Millionen CHF verhängt. Grund: Die österreichische Gaba-Lizenznehmerin, die Gebro Pharma GmbH,  hatte sich von 1982 bis 2006 vertraglich verpflichtet, keine Zahnpflege-Mittel der Marke „Elmex“ in andere Länder zu exportieren. Sanktioniert wurde nur der Zeitraum von 2004 bis 2006, weil aufgrund des Schweizerischen Kartellgesetzes („KG“) erst seit 2004 Bussen verhängt werden können.

Jahrelang hatten Gaba und WEKO über die Bewertung der WEKO gestritten, das vertragliche Verbot des Parallel-Imports sei als vertikale Vertriebsabrede mit absolutem Gebietsschutz zu werten (Artikel 5 Abs. 4 KG), mithin als unzulässige „per se“-Wettbewerbsbeschränkung.

Gaba argumentierte, die angegriffene Vertragsklausel sei toter Buchstabe und in der Praxis nicht gelebt worden. Jedenfalls habe die Klausel den Wettbewerb nicht beeinträchtigt, geschweige denn beseitigt. Ausserdem gebe es Rechtfertigungsgründe. Und schliesslich sei nur ein Vertriebspartner mit Aktionsradius Österreich betroffen, kein schweizerischer Händler.

Das Bundesverwaltungsgericht („CH BVerwG“) gab der WEKO im Jahr 2013 Recht, schliesslich auch das Schweizerische Bundesgericht („CH BG“), wenn auch mit knapper Mehrheit (3:2 Richterstimmen). Mit Urteil vom 26. Juni 2016, veröffentlicht am 21. April 2017 (Entscheid 143 II 297; „Gaba-Urteil“), bestätigte das CH BG das Urteil des CH BVerwG.

Abreden sollen „per se“ wettbewerbswidrig sein

Nach dem Gaba-Urteil ist die angegriffene Klausel per se als erhebliche Wettbewerbsbeseitigung anzusehen. Was die Parteien gewollt, bezweckt und gelebt hätten, so das CH BG, und/oder ob der Wettbewerb effektiv beeinträchtigt worden sei, darauf käme es nicht an. Irgendwelche Rechtfertigungsgründe seien nicht ersichtlich. Unerheblich sei auch der Hinweis, dass der Vertragspartner in Österreich aktiv gewesen war. Durch die Klausel sei Gebro behindert worden, möglicherweiseauch in die Schweiz zu exportieren, und das reiche aus, um den Wettbewerb in der Eidgenossenschaft potentiellzu beseitigen.

Über den eigentlichen Fall hinaus – bei Gaba war es nur um eine vertikale Vertriebsabrede gemäß Artikel 5 Abs. 4 KG gegangen – dekretierte das CH BG auch noch, dieselbe Wertung gelte für horizontale „hardcore“-Abreden nach Artikel 5 Abs. 3 KG, namentlich Preis-, Kunden und Gebietsabreden.

Das Urteil des CH BG – wie schon jenes der Vorinstanz – ist in Literatur und Praxis sehr heftig kritisiert worden. Vor dem Gaba-Urteil war die Rechtsprechung des CH BVerwG uneinheitlich gewesen, ausgehend vom Gesetzeswortlaut der Artikel 5 Abs. 3 und Abs. 4 KG, welche bei derartigen Abreden eine Wettbewerbsbeseitigung „vermuten“ und damit einen Bewertungsspielraum eröffnen. Teilweise war das CH BVerwG – vor Gaba – von einer „per se“-Kartellrechtswidrigkeit horizontaler und vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen ausgegangen, teilweise hatte das Gericht die gelebte Vertragswirklichkeit bewertet. Ähnlich hielt es die WEKO in ihren Entscheidungen.

Offenbar wollte das CH BG die widersprüchliche Praxis vereinheitlichen – und ist dabei über das Ziel hinaus geschossen. Das gilt auch für die gewünschte Anpassung an das EU-Kartellrecht. Dieses ist in Gesetzgebung und Praxis deutlich differenzierter als die neue Linie in der Schweiz (Marktanteile, Marktstruktur, Verhalten der Parteien,…)

Wie können sich Unternehmen schützen?

Wie sieht die Realität im Moment aus, ein Jahr nach Veröffentlichung des „Gaba“-Entscheids? Wirtschaft und Rechtsberater haben – wie die Verfasserin dieses Beitrags es selbst erfahren musste – schwer zu kämpfen. Eine ganze Reihe von Unternehmen, schweizerische wie ausländische, haben hohe Geldbussen bei der WEKO kassiert, gestützt auf das „Gaba“-Urteil. Als entlastendes Argument wird nur die „wirtschaftliche Effizienz“ (Artikel 5 Abs. 2 KG) zugelassen, die aber in der Praxis sehr schwierig zu belegen ist.

Es laufen erste Vorstösse für eine Änderung des Kartellgesetzes; ob diese Erfolg haben werden, ist sehr unklar. Wer auf eine Änderung der Rechtsprechung hofft, muss möglicherweise lange warten: Derzeit verhandeln betroffene Unternehmen Bussgelder lieber so weit wie möglich nach unten und vermeiden den Gang zum Gericht. „Augen zu und durch“, lautet die allgemeine Devise.

Was können Unternehmen tun? Jeder, der geschäftlich irgendwelche Bezüge zur Schweiz hat, sollte dringend seine Verträge auf „hardcore“-Klauseln hin durchforsten, heikle Bestimmungen so rasch wie möglich kartellrechtskonform anpassen und im Zweifelsfall komplett beseitigen. In kritischen Fällen empfiehlt es sich, die Flucht nach vorne anzutreten und bei der WEKO eine Selbstanzeige zu erstatten, die zur kompletten Bussenbefreiung führen kann („leniency“).